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Nationalmannschaft

Zwischen Bereitschaft, Risiko und Rotzlöffeln – Die Nationalmannschaft im Wandel

Ihnen gehört die Zukunft: Kai Havertz und Arne Maier

Es ist der 13.07.2014, Ortszeit 16.00 Uhr im Maracanã-Stadion zu Rio de Janeiro. Deutschland tritt im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft an, gegen Lionel Messi und seine La Albiceleste, die Weiß-Himmelblauen. Für den vielleicht besten Fußballer der Welt ist dies die Chance, seiner Karriere die Krone aufzusetzen. 

Deutschland ist Weltmeister

Nach 120 Minuten ist Deutschland, durch das Tor von Mario Götze in der 113. Minute, zum vierten Mal Weltmeister. Der letzte Akt in einem sensationellen Turnierverlauf. In der Gruppenphase mit zwei Siegen und einem Unentschieden ungefährdet, aber holprig gestartet, folgt gegen Algerien im Achtelfinale der Krimi. Am Ende steht es nach zahlreichen Rettungsaktionen von Manuel Neuer 2:1 für Deutschland. Durch ein 1:0 gegen Frankreich qualifizierte man sich anschließend für die Runde der besten Vier. Der Rest ist Geschichte. Geschichte, die Risse in Brasilien hinterließ und die die Deutschen nicht gerade als gastfreundlich dastehen ließ.

Was ist für die Zukunft zu erwarten?

Schlappe vier Jahre später endet die Reise leider nicht erst im Endspiel, sondern schon historisch schlecht mit dem Vorrunden-Aus. Und das in einer Gruppe mit Mexiko, Schweden und Südkorea. Wie es dazu kommen konnte, kann kaum einer erklären. Auch die selbstkritischen Worte von Bundestrainer Löw und Konsorten Wochen danach geben wenig Aufschluss über das, was in Watutinki schief lief. Gefehlt haben gegenüber der Weltmeister-Mannschaft von 2014 sicherlich wichtige Stützen wie Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Miroslav Klose oder Lukas Podolski. Aber auch ohne diese, abgesehen von Schweinsteiger, schnitt Deutschland bei der darauffolgenden Europameisterschaft 2016 solide ab. 

Dieses Jahr dann ein komplett anderes Bild. Erneut über Spielweise, Auftreten und Probleme zu urteilen, möchte ich mir an dieser Stelle ersparen. Fehlersuche zu betreiben, gehört dem Verantwortungsbereich anderer an. Eines jedoch ist klar: Denen, die auf dem Platz standen, hat es an fußballerischer Qualität sicherlich nicht gemangelt. Besserung erwarten darf man nun, wenige Wochen nach der Aufarbeitung des DFB, bei der Nations League und in der Zukunft sicherlich nicht im Übermaß. Aber darum geht auch nicht. Es geht erst einmal nur darum, die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Ob personell, strukturell oder was den Führungsstil anbelangt. 

Das Wichtigste dabei wird sein, sich vorzubereiten auf das, was kommt nach den Hummels‚, Kroos‘, Khediras und Reus‘. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass nach Turnierende schon hektisch getuschelt wurde, wer denn nun das letzte Mal dabei war, beziehungsweise in naher Zukunft einem Sandro Wagner oder Mario Gomez in Sachen Rücktritt nachahmen könnte. Die Zukunft gehört anderen Spielern.

Die neue Generation

Um die Nachfolge eines Neuer, Boateng, Kroos, Hummels oder Reus kümmern sich vorrangig die Liga-Klubs. Dort wird nach allen Regeln der Kunst versucht, die nächsten großen Fußballer heran wachsen zu lassen. Ob in Leverkusen, München, Dortmund oder auf Schalke. Überall befinden sich hochveranlagte Youngsters in Lauerstellung. Als Beispiel sollen an dieser Stelle Julian Brandt, Jonathan Tah, Niklas Süle oder Leon Goretzka dienen. All diese Jungs haben eines gemeinsam. Im Klub sind oder waren sie Stammspieler und durften deshalb schon A-Nationalmannschaft spielen.

Man könnte sie also als diejenigen bezeichnen, die sich für den fliegenden Wechsel bereit machen. Die Zukunft könnte ihnen gehören. Wiederum dahinter aber verbergen sich junge fußballverrückte Jungs, die eben genau da hin wollen, wo ihre Klubkollegen schon sind. In Lauerstellung warten Kai Havertz, Thilo Kehrer, Maximilian Mittelstädt oder Arne Maier auf den Durchbruch – nicht nur im Vereinsdress. Gemeinsam mit den gerade genannten, bereits etablierten Spielern, könnten sie in Zukunft die Nationalmannschaft bilden. Bundesliga-Erfahrung eint alle der genannten, hoffnungsvollen Talente. Doch nicht nur die Anzahl der Einsätze oder andere leistungsbezogenen Daten spielen eine große Rolle.

Scholl-Kritik: Taktik statt Individualität im Vordergrund

Prominentester und lautester Kritiker dabei war Ex-Profi und Ex-ARD-Experte Mehmet Scholl. In seiner Radiosendung „Mehmets Schollplatten“ im „BR“ kritisiert er nicht nur die Trainerausbildung des DFB, sondern auch die Jugendarbeit: „Wir verlieren die Basis. Die Kinder müssen abspielen, sie dürfen sich nicht mehr im Dribbeln ausprobieren. Sie bekommen auch nicht mehr die richtigen Hinweise, warum ein Pass oder ein Dribbling nicht gelingt. Stattdessen können sie 18 Systeme rückwärts laufen und furzen.“

Konkret gemeint ist damit, die straffe Leine, an der die jungen Fußballer in den Akademien geführt werden. Auch der bis dato teuerste deutsche Verteidiger Thilo Kehrer bestätigt Ähnliches im Interview mit „11Freunde„. Bemängeln tut er den Zeit- und Leistungsdruck, welcher durch die klaren Instruktionen und geringen Freiheiten zustande kommt. Für wichtiger hält der 21-Jährige das „sich-ausprobieren-dürfen“, um eine Persönlichkeit und Mentalität generieren zu können.

Bestätigung erfährt Kehrer durch den ehemaligen DFB-Co-Trainer Hansi Flick, welcher fordert, jungen Spielern ihre Fehler zuzugestehen. In Gespräch mit der „FAZ“ sagte er außerdem: „Wir benötigen mehr Freiraum für Kreativität.“ Umsetzen würde er dies, indem man bis zu einem bestimmten Alter des Fußballers verstärkt individuell trainieren lässt und erst anschließend die Mannschaftsorientierung schult. 

Erstmals durchliefen alle Spieler die U-Nationalmannschaften

Das, was der hochgeschätzte Kollege von Joachim Löw im Mai eindrucksvoll zu Protokoll gab, konnte man in den darauf folgenden Monaten gut beobachten. Die deutsche Elf war mal wieder gespickt mit den Besten des Landes, war Top-Favorit. Doch schnell war zu sehen, dass die Kritik von Scholl oder Flick tatsächlich richtig ist. „Die Mannschaft“, welche bei der WM 2018 die Premiere hatte, fast ausschließlich aus Ballkünstlern zu bestehen, die ihre Jugend in den deutschen Nachwuchsleistungszentren verbracht hatte, fand kaum eine Lösung auf Unerwartetes.

Gegen die, wie ein Sozius auf dem Motorrad klammernden, Südkoreaner fand man kaum ein Mittel. Ähnlich war es gegen die überraschend tief formierten Mexikaner. Das gegenwärtige Auftreten scheint also genau ein Produkt aus dem zu sein, was den Männern gelehrt wurde – und zeigt genau, welcher Punkt vernachlässigt wurde. Es fehlte die Bereitschaft, das Risiko einzugehen und speziell gegen die Mexikaner wäre ein junger, frecher Rotzlöffel-Spieler wie Leroy Sané vielleicht gerade recht gewesen. Einen ähnlichen Effekt hatte der Leverkusener Julian Brandt, der, wenn er auf dem Platz stand, seinem Nachnamen alle Ehre machte. Trotzdem reichte es nicht für mehr als zwei Kurzeinsätze.   

Braucht Deutschland den „Mbappé-Effekt“?

Braucht es also in Zukunft mehr Spieler, die vorrangig über ihre Persönlichkeit und Mentalität einer Mannschaft weiterhelfen? Müssen Nachwuchszentren mehr darauf gehen, die Bereitschaft für Fehler und Risiko zu erhöhen. Quasi einen Mbappé-Effekt auszulösen, sich in jedes Dribbling volle Kanne reinzuwerfen, egal wie viele Eins-gegen-Eins Situationen man davor schon in den Sand gesetzt hat?  Vielleicht ja, vielleicht muss man sich wieder mehr lösen von der Taktik und System-Schulung und individueller auf den Kicker eingehen, der vor einem steht.

Wenn wir schon bei einem neuen Ansatz sind. Ist es vielleicht auch nötig die 12-Stunden-rundum-Betreuung der jungen, hoffnungsvollen Jungs zu reformieren? Oftmals bedeutet dies nämlich zwei Trainingseinheiten pro Tag, dazwischen Schule und abends Hausaufgaben. Da kommt zurecht die Frage auf, wann hier noch Zeit für einen selbst und für Erfahrungen außerhalb des Grüns ist, die eine Persönlichkeit und den Charakter formen.

Denn wie soll ich mich als gepuderter 18 bis 21-Jähriger nach meinen Jahren im Rundum-sorglos-Leben auf das vorbereiten, was kommt, wenn ich tatsächlich den Sprung in die A-Mannschaft schaffe? Ab da gilt es dann damit fertig zu werden, Erwartungen erfüllen zu müssen und speziell heutzutage hohen Ablösen zu rechtfertigen und dem medialen Druck Stand zu halten. 

Höhere Risikobereitschaft als Lösung für die Probleme

Was es braucht, ist demnach eine Ausbildung, die den jungen Spielern mehr als nur fußballerisches Wissen vermittelt. Schon seit Längerem ist es gang und gäbe, die Spieler im Umgang mit den Medien zu schulen, um ihnen in diesem Aspekt den Einstieg zu vereinfachen und vor allem: um sie zu schützen. Zu schützen vor den gnadenlosen Analysen und Meldungen um die eigene Person und den entgegen aller Erwartungen mal wieder schwachen Auftritt im letzten Ligaspiel. 

So etwas wie dieses „Medientraining“ muss es nun auch in puncto Risikofreudigkeit, Persönlichkeit und Mentalität geben, um einer Mannschaft voller hochveranlagter Spieler diesen nicht zu berechenbaren Mbappé-Effekt zu verleihen. Um ins Risiko gehen zu wollen, zwei Fehler mehr machen zu dürfen und sich darüber persönlich – und damit auch mental – weiterzuentwickeln. Und um vor allem das zu vermeiden, was wir gegen Mexiko, Schweden und Südkorea beobachten mussten, als der amtierende Weltmeister teils überrascht, überfordert und ratlos wirkte.